Wahrheit – nur ein Wort?
„Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein.
Was darüber ist, das ist vom Bösen.“1
Pippi Langstrumpf:
„Ich mach’ mir die Welt,
widdewidde, wie sie mir gefällt.“2
Was hat es mit der Wahrheit auf sich?
Warum halten wir sie
für so wichtig?Frank H. Wilhelmi
Ein Wort ist nur ein Wort. Seine Bedeutung wird erst dadurch begreifbar, dass es sich in der Handlung gegenüber einem Menschen oder einem Objekt mit einer konkreten Wirkung füllt und diese sich in unterschiedlichen Umständen als gültig erweist. Ein Wort ist gewissermaßen ein Urteil über einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, ein Urteil, das sich als zutreffend erwiesen hat.
Wissens- oder Glaubenswahrheit?
Zur Unterscheidung: Es gibt Wissens-Wahrheit und Glaubens-Wahrheit. Unter Wissen verstehen wir eine beweisbare Aussage, z. B.: „Wenn es regnet, wird es nass“, oder: „Wenn ich einen Stein fallen lasse, fällt er nach unten.“ Hier geht es um die „Was-Frage“, mithin um Naturgesetze, die – unabhängig von der Interpretation einer Einzelperson oder einer Gerichtsinstanz – jederzeit experimentell nachvollziehbar und beweisbar sind.
Anders verhält es sich mit der Frage des „Warum“: Warum lebe ich, warum regnet es, warum gibt es die Natur, welchen Sinn hat das Leben, was ist der Mensch, gibt es einen Schöpfer oder sind wir Produkte des Zufalls? Wir erleben eine sichtbare und eine unsichtbare Seite der Wirklichkeit, letztere wird bezeichnet als Glaubenswahrheit oder Glaubensgewissheit. Auch sie beansprucht universelle Gültigkeit, ist aber nicht nachweisbar etwa durch naturwissenschaftliche Experimente, mathematische Ableitungen oder juristische Instanzen.
Glaubenswahrheit wird einer Person mitgeteilt durch die Hinwendung zu einer übernatürlichen Instanz, die als objektive, existenzielle Autorität vorausgesetzt wird. Die Art und Weise, in der sich das Phänomen mitteilt, wird Offenbarung, Idee oder Prinzip genannt. Sie bilden einen der betroffenen Person zugänglichen Raum der Deutung ihres Wesens im Sein – eine Quelle, der gegenüber sie sich erlebt in einer wahrhaftigen und sinnstiftenden Verbindung im Weltzusammenhang.
Begriff: Absicht und Wirkung
Die Bedeutung eines Begriffs wird erlebbar, wenn er sich füllt mit einer Intention, einem Motiv oder Wesen, durch die das Gegenüber eine entsprechende Wirkung erfährt. Durch die Bestätigung dieser Zustandsveränderung in unterschiedlichen Kontexten lernt eine Person, eine Gesellschaft oder Kultur, diese Praxis als belastbar und zuverlässig zu begreifen. In der Linguistik und Psychologie bezeichnet man den Handelnden dabei als „Agens“ und den Empfänger der Wirkung als „Patiens“.3
Die Philosophie definiert Wahrheit als Urteil, das übereinstimmt mit seinem Gegenstand oder seiner Wirkung in der Welt (Korrespondenztheorie der Wahrheit) und nicht im Widerspruch steht zu dem bereits vorhandenen System an Überzeugungen (Kohärenztheorie der Wahrheit). Unabhängig von der Frage der Beweisführung erforscht die Psychologie das Phänomen „Wahrheit“ in Bezug darauf, wie wir uns als Menschen zu ihr stellen; dabei geht es um die Fragen von Irrtum, Lüge, Wahn und Wahrheitswillen.4
Osterhase & Weihnachtsmann ‒ Philosophien der Wahrheit
Für Aristoteles ergibt sich die Wahrheit daraus, dass möglichst viele Leute mit einer Meinung oder Annahme übereinstimmen. Sollen wir dann etwas für wahr halten, weil viele Leute daran glauben? Also, dass der Osterhase die Eier bringt und der Weihnachtsmann die Geschenke? Thomas von Aquin und andere Denker wie Kant und Hegel sind der Auffassung, dass es zur Wahrheit eines objektiven Beweises bedarf. Ihrem Verständnis nach definiert sich Wahrheit als Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Sein.
Im dialektischen Materialismus unterscheidet man die „relative“ von der „absoluten Wahrheit“.5 Beide bilden eine Einheit und ein Spannungsfeld, das zur Wahrheitsfindung dient. So gilt es als absolute Wahrheit, dass die Erde eine Kugel ist – dabei ist selbst diese Wahrheit relativ; denn durch die Rotation und die Wirkung der Polkräfte über Jahrmilliarden hinweg – so die übliche Erklärung – ist die Erde aus der Form geraten und deshalb ist sie an vielen Stellen alles andere als rund. Es handelt sich also um eine mehr oder minder gültige Wahrheit.6 Laut dem dialektischen Materialismus muss die Wahrheit von Zeit zu Zeit anhand der Wirklichkeit aktualisiert werden; eine endgültige, ewige Wahrheit gibt es nach dieser Auffassung nicht.7
Wissen und Glaube ‒ ein Gegensatz?
Wissen und Glaube bedingen einander wechselseitig: Wissen stützt und ergänzt die Erkenntnis des Glaubens und umgekehrt ist der Glaube Voraussetzung dafür, dass Wissen in Erkenntnis umgewandelt werden kann. Ohne Erkenntnis bleibt Wissen bedeutungslos, ohne einen Sinn können wir nicht leben. Glaube und Wissen (Wissenschaft) sind zwei Arten, den Inhalt der Welt zu interpretieren, und oft werden sie in einen Gegensatz zueinander gestellt. Im Prinzip ergänzen sie sich aber, denn die wissenschaftlich als Wahrheit geltende Aussage bleibt ja immer vorläufig; sie muss jederzeit damit rechnen, durch einen bisher nicht entdeckten Aspekt der Wirklichkeit neu erfasst werden zu müssen.
Wahrheit als Instrument der Manipulation
Im Alltag brauchen wir meist keine Beweise für die Wahrheit, solange wir einander verstehen; allerdings hängt die Gültigkeit von Erkenntnis und Sein davon ab, ob sich durch plausible Argumentation zwischen den Beteiligten eine Übereinkunft erzielen lässt. Was aber, wenn dieser Konsens darin bestehen würde, bestimmte Menschen wegen ihrer Überzeugung zu diskriminieren, gegen sie Krieg zu führen oder sie ihrer Freiheit zu berauben, weil sie dem Machthunger eines autoritären Regimes im Wege stehen? Gilt etwas deshalb als wahr, weil diejenigen, die die Macht haben, andere ihrer Willkür unterwerfen können?
Woher kommt der Wunsch nach Wahrheit?
Warum gibt es dann Lug und Betrug, wenn sich doch jeder wünscht, nicht belogen oder betrogen zu werden? Warum sind wir bereit, die Wahrheit zu leugnen, zu verdrehen und andere Menschen zu täuschen, wenn das Festhalten an der Wahrheit unvorteilhaft erscheint?
Wozu also Wahrheit, wenn sie ohnehin relativ ist und es keinen objektiven Maßstab gibt, keine verlässliche Quelle und keine Instanz, vor der wir sie einklagen könnten? Gilt dann das Pippi-Langstrumpf-Prinzip?
Oder ist die Wahrheit doch mehr als nur ein Wort?
Jesus sagt: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.“ 8
Ist das nun ein Appell, die Wahrheit nicht zu verkomplizieren? Machen wir uns manchmal Einfaches schwer, weil es uns nicht gefällt? Jeder von uns hat das schon in eigenem Interesse praktiziert, manchmal wird es sogar zu einer Regel oder zur Doktrin: Wir konstruieren für uns selbst eine Scheinwelt oder zwingen anderen unsere Ansichten auf. Manchmal scheint eine ganze Regierung oder ein gesamtes Volk in einer solchen Simulationsblase zu leben.
Theoretische Debatten um die Deutung von Wörtern kann man lange führen, aber in der Konfrontation mit einer konkreten Person oder Situation muss man Farbe bekennen – so verstehe ich den Hinweis Jesu in Matthäus 5,37. An anderer Stelle sagt er, er sei die Person, an der sich Wahrheit und Lüge scheiden;9 er behauptet sogar, er sei „die Wahrheit“. Aber nicht nur das; in der Heiligen Schrift wird Christus als „das Wort“ schlechthin bezeichnet:10 Es heißt, in ihm sei das Wort „Fleisch“ geworden und zu den Menschen gekommen, um ihnen den Weg, die Wahrheit und das Leben zu offenbaren.11 Das klingt anmaßend. Hier kann nur gelten: Entweder ist es wahr (dann müssten alle ihm nachfolgen – doch warum tun sie es nicht? Ist ihnen die Lüge lieber?); oder man muss ihn für einen Wahnsinnigen halten.
„Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Nationen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden wie Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“12
Wahrheit, Weisheit und Offenbarung
Die Heilige Schrift stellt uns die Wahrheit nicht vor als eine durch den Menschen zu erlangende Erkenntnis, sondern als eine Offenbarung, die wir in der Beziehung zu Gott als unserem Schöpfer erkennen und erleben. Diese Erkenntnis verbindet die sichtbare Natur mit dem unsichtbaren Geist, der in einem Liebesakt alle Geschöpfe aufeinander bezieht.
Durch die Sünde (griech. ἁμαρτία, hamartia – „Irrtum, Lebenszielverfehlung“) hat sich der Mensch aus dieser Verbindung ausgeklinkt. Nur durch Christus, der in uns die Lebenslüge „richtet“ – d. h. die Illusion, der Mensch könnte sein Leben selbst bestimmen –, nur durch Christus können wir die Trennung von Gott und die Formen menschlicher Verirrung überwinden; ansonsten leben wir in einer Matrix der Selbstreferenz bzw. Selbstvergöttlichung. Verirrung mündet ja oft genug in Verwirrung; und der große „Verwirrer“ wird im Griechischen betitelt mit διάβολος, diabolos – „Teufel“!
Hingegen sagt Jesus von sich, er sei die Wahrheit;13 das bedeutet, dass wir ohne ihn den wirklichen Grund unserer Lebensumstände nicht erkennen können. Eugen Drewermann drückt es so aus: „Der Mensch kann offenbar das, was er ist, nur sein in der Gemeinschaft mit Gott; andernfalls wird ihn das, was er wird, zu etwas anderem machen, als was er ist und wozu er berufen ist.“14
Die Wahrheit wird uns offenbar nur durch die Herzensbindung an ihre Quelle – an Christus. Nur an seiner Person und in seinem Geist können wir den Weg zur Erkenntnis der Wahrheit finden.
Jesus sagt: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er nimmt es von dem Meinen und wird es euch verkündigen.“15
Die Versuchung zur Lüge
Seit dem Sündenfall ist die Wahrheit dem Menschen zum Machtinstrument geworden: Ein Volk unterwirft das andere seiner Herrschaft; getrennt von Gott herrschen Machtmissbrauch und babylonische Sprachenverwirrung – und die Trennung von Gott aufheben, das kann nur geschehen durch Buße, Umkehr und Gnade. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass der Heilige Geist kommen kann, um uns die Augen zu öffnen und uns von der Schuld der Verblendung zu befreien.16
In der Wahrheit zu leben bedeutet, Christus persönlich in unser Herz einzuladen. Sein Heiliger Geist wird uns lehren, Gott in der Wahrheit anzubeten,17 d. h., alle Worte, Begriffe, Gewohnheiten, die Moral und kulturellen Deutungsinhalte unserer Sozialisation zu sichten und sie zurückzubinden (religio) an die Quelle. Die Schrift nennt das „Heiligung“: Das innere Motiv unserer Worte und Taten wird neu ausgerichtet – nicht vor einer irdischen, sondern vor der göttlichen Instanz.
Ziel des göttlichen Gerichts ist nicht Strafe, sondern Rettung, Gnade und ewiges Leben. Die durch Christi Opfer erwirkte Gnade bringt uns in Übereinstimmung mit dem Ebenbild Christi. Was wir im Geist der Wahrheit im Gespräch mit Christus (Gebet) empfangen, wird direkt eingespeist in unser Herz, unseren Verstand und Willen und verleiht uns die Kraft, Gottes Wort (das Gesetz) mit dem Geist und Wesen der Liebe zu erfüllen.
Gott sucht nach Menschen, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten;18 und es ist sein Wille, uns durch seinen Geist zur Liebe zu befähigen.
Frank H. Wilhelmi ist Unternehmer, Investor sowie Mitglied der Initiativgruppe und Jury des Hessischen Gründerpreises. Als Key Note Speaker befasst er sich mit Themen wie Nachhaltigkeitstransformation, Künstliche Intelligenz und Sozialverantwortliche Unternehmensführung.
1 Matthäus 5,37.
2 https://wp.in-der-dell.de/wp-content/uploads/2020/05/Pippi-Langstrumpf_Lied.pdf (16.04.2024).
3 https://quillbot.com/de/blog/satzbau/agens/ (16.04.2024).
4 https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/wahrheit-wahr (21.04.2025).
5 www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/525060/der-dialektische-materialismus/ (22.04.2025).
6 Geert Keil, Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder. https://www.philosophie.hu-berlin.de/de/arbeitsbereiche/anthro/mitarbeiter/keil/publikationen/c46volltext_neu.pdf (21.04.2025).
7 https://www.philomag.de/lexikon/wahrheit (21.04.2025).
8 Matthäus 5,37.
9 Johannes 9,39.
10 Johannes 1,14.
11 Johannes 14,6.
12 1. Korinther 1,22–24.
13 Johannes 14,6.
14 Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, Teil I, Paderborn 1988, S. 274.
15 Johannes 16,13–15.
16 Johannes 16,8.
17 Johannes 4,24.
18 Johannes 4,24.